Gemeinsame Veranstaltung des Fliedner-Vereins Butzbach e.V. und des Deutschen Richterbundes - Bezirksgruppen Gießen und Marburg
Informations- und Diskussionsveranstaltung
zu dem Thema: „Sucht und Vollzug“ im Amtsgericht Gießen
mit vorheriger Besichtigung der JVA Gießen
am Donnerstag, 24. September 2009
Auszug aus der Einladung:
Suchterkrankungen von Straffälligen werfen im Erkenntnis- und Vollstreckungsverfahren in einem erheblichen Maße Fragestellungen auf, bei denen die zutreffende rechtliche Beurteilung regelmäßig von fundiertem Hintergrundwissen um Sucht und deren Behandlung abhängig ist. Wann ist ambulante, wann stationäre Therapie zweckmäßig, wann macht Substitution Sinn? Welche Einrichtungen und Konzepte haben sich bewährt? Welche Vorlaufzeiten gelten für Kostenzusagen und Therapieplätze? § 35 BtMG als „Vehikel“ zur bequemen Entlassung – welche Maßstäbe gelten; wann ist die Zustimmung zu versagen? Welche Bewährungsauflagen sind angezeigt?
ab 15.00 Uhr (Pforte der JVA):
Rundgang durch die JVA Gießen mit Führung durch den Leiter der Anstalt,
Herrn Regierungsdirektor Martin Lesser
ab 17.00 Uhr (Amtsgericht Gießen, Unterrichtsraum im Zwischenbau 233, Gebäude B, Haupteingang Neubau):
Dr. Rainer Gliemann, Facharzt für Psychiatrie, Psychotherapie, Forensische Psychiatrie (DGPPN,Äk); konsiliarischer Psychiater in den JVAen Butzbach, Rockenberg und Gießen, forensisch-psychiatrischer Sachverständiger
Bernd Jagalski, Externer Suchtberater in der JVA Butzbach
Regierungsdirektor Martin Lesser, Leiter der JVA Gießen
Michaela Mühlich, Externe Suchtberaterin in der JVA Gießen
Staatsanwalt Lars Streiberger, StA Gießen, Dezernent Betäubungsmittelstrafsachen, zuvor abgeordnet an das HMdJIE und stellvertretender Leiter der JVA Butzbach
Gesprächsleitung: Richter am Amtsgericht Mirko Schulte, Vorsitzender des Fliedner-Vereins Butzbach e.V.
- Ergebnisse der Podiumsdiskussion in Thesenform -
1. Sucht und Vollzug
Der Anteil der Betäubungsmittelabhängigen in den Justizvollzugsanstalten ist hoch. Mehrfach wöchentlich ist man in der JVA Gießen mit Anzeichen körperlichen Entzugs konfrontiert, die teilweise eine Verlegung nach Butzbach oder Kassel erforderlich machen. Im Übrigen spielt die Suchterkrankung bei der Erstellung des Vollzugsplanes, insbesondere im Hinblick auf eine Entscheidung nach § 35 BtMG, eine Rolle. Die Justizvollzugsanstalten sind nicht drogenfrei, allerdings ist es schwieriger als „draußen“, an die gewünschten Mengen heranzukommen. Ehrlich muss eingeräumt werden, dass die JVA der falsche Ort ist, um ein Suchtproblem – über eine Beratung hinausgehend – zu bearbeiten.
2. Körperliche Entgiftung
Die körperliche Entgiftung findet bei Abhängigkeit leichten Grades, insbesondere wenn nicht Heroin im Vordergrund steht, in der JVA Gießen statt. Bei einer Opiatabhängigkeit ohne Delir kann die Entwöhnung unter ärztlicher Aufsicht in der JVA Butzbach vollzogen werden. Bei Anzeichen eines Delirs ist jedoch eine Verlegung in die JVA Kassel erforderlich.
3. Substitution im Vollzug
In den dafür ausgelegten Justizvollzugsanstalten in Hessen kann eine Substitution durchgeführt werden. Substitutionsmittel ist in erster Linie Methadon, das in absteigender Dosis verabreicht wird. Ziel jeder Substitution ist langfristig die Abstinenz und die Möglichkeit der Integration ins Arbeitsleben. Derzeit gibt es in der JVA Butzbach ca. 30-50 Teilnehmer an der Methadonsubstitution. Sie wird flankiert von dem Angebot einer psychosozialen Beratung, wobei die Frage, ob diese ausreichend ist, kontrovers diskutiert wird.
4. Notwendigkeit der (Langzeit-)Therapie
Wenn der körperliche Entzug überstanden ist, bleibt dennoch ein starker Suchtdruck bestehen. Dieser kann nur mit einer Langzeittherapie überwunden werden, in der die Ursachen der Drogensucht bearbeitet werden, über schädliche Wirkungen der Sucht aufgeklärt und der Umgang mit dem Suchtdruck geübt wird. Ein Therapieklima, in dem Rückfälle akzeptiert werden, hilft gegen die Verheimlichung von Rückfällen und führt zu deren aktiver Aufarbeitung. Eine langfristig erfolgreiche Verhaltenstherapie kann nur offen und mit Lockerungen erfolgen, weil nur so die Abstinenz außerhalb eines geschlossenen Systems unter realen Bedingungen geübt werden kann. Besonderer Aufmerksamkeit bedürfen die Abhängigen, bei denen die Suchterkrankung mit einer Persönlichkeitsstörung einhergeht. Wegen der zum Teil zusätzlich erforderlichen Medikation kann deren Therapie nur in besonders dafür ausgelegten Einrichtungen erfolgen.
5. Zeitablauf bei einer Maßnahme nach § 35 BtMG
In den Justizvollzugsanstalten wird die Suchtberatung schnell kontaktiert, wenn die Möglichkeit des § 35 BtMG im Raum steht. Die Wartezeiten bis zum Beginn der Maßnahme sind jedoch unterschiedlich lang. Am Beispiel für die JVA Gießen wird erläutert, dass zur Klärung der Biographie, der Therapiewilligkeit und zur Vorbereitung auf eine Therapie ca. 5-8 Gespräche, die 14täglich stattfinden, erforderlich sind. Somit dauert es ca. 3 Monate, bis der Antrag gestellt wird, sodann 2-4 Wochen bis zur Kostenzusage und dann – sofern sofort ein Aufnahmetermin vereinbart werden kann – noch einmal 6-8 Wochen bis zum Antritt der Therapie nach Zustimmung von Staatsanwaltschaft und Gericht. Insgesamt ist so von einer Spanne von mindestens 5-6 Monaten auszugehen, bis eine Maßnahme nach § 35 BtMG aus dem Vollzug heraus begonnen werden kann. Zusätzliche Wartezeiten können sich ergeben, wenn die gewünschten Einrichtungen belegt sind. Es ist darauf hinzuweisen, dass es in der JVA Weiterstadt ein Schnelleinweisungsverfahren gibt, wenn feststeht, dass eine Therapie nach § 35 BtMG in den nächsten 9 Monaten angetreten werden kann.
6. Klärung der Therapiewilligkeit
Aus der Vollzugspraxis wird festgestellt, dass § 35 BtMG heute oftmals für eine nicht seinem Zweck entsprechende Umgehung der Strafe genutzt wird. Deshalb ist die Klärung der Therapiewilligkeit von entscheidender Bedeutung. Diese Klärung kann nicht über das in (5.) genannte Maß beschleunigt werden, weil nicht nur die Gespräche wichtig sind, sondern gerade auch die Zeit der Reflexion zwischen den Gesprächen.
7. Möglichkeit zur Verkürzung der Wartezeit
Ein praxisnaher Vorschlag gerade für Abhängige mit Aussicht auf eine erste Therapie ist, diese Vorbereitung auf eine Maßnahme nach § 35 BtMG nicht in den Vollzug zu verlegen, sondern die Zeit bis zum Hauptverhandlungstermin in Zusammenarbeit mit den Suchthilfeeinrichtungen aktiv zu nutzen. Dann besteht durchaus die Möglichkeit, direkt im Anschluss an die Hauptverhandlung in die Therapie zu gehen. Wichtigster Verzögerungsfaktor in diesem Konzept ist es, wenn die Klienten die Terminabsprachen nicht einhalten.
8. Vorgehen bei Therapieabbruch
In der Regel erteilt die Staatsanwaltschaft ihre Zustimmung auch nach einem Therapieabbruch bei einer zweiten oder gar dritten Zurückstellung nach § 35 BtMG. Danach ist eine Zustimmung in aller Regel ausgeschlossen, weil von vorhandener Therapiewilligkeit nicht ausgegangen werden kann. Ausnahmen von dieser Regel sind möglich, in erster Linie aber abhängig von den Gründen des Abbruchs. Auch bei Abgängigkeit aus einer Therapieeinrichtung wird nicht sofort mit einem Vollstreckungshaftbefehl reagiert, sondern im vertretbaren Maß zugewartet, ob ein erneuter Beginn einer Therapie angestrebt wird. Wichtig sind dabei ein offener Umgang mit dem Abbruch und der erkennbare weiterbestehende Wille zur Therapie. Um eine Entscheidung auf gesicherter Tatsachengrundlage zu treffen, sind für die Staatsanwaltschaft u. a. die Berichte der Suchtberatung von entscheidender Bedeutung. Allerdings gibt es keinen Automatismus dergestalt, dass bei Vorliegen einer Kostenzusage auch stets die Zustimmung erteilt wird, weil die Staatsanwaltschaft ihre Ermessensspielräume nach anderen Kriterien nutzt als die Kostenträger.
9. Umgang mit Alkoholmissbrauch im Vollzug
Bei Suchterkrankungen muss zwischen solchen mit Betäubungsmitteln und solchen mit Alkohol unterschieden werden. Motivation der Betroffenen und die Arbeitsweise mit ihnen sind teilweise entgegengesetzt. Auch für Alkoholabhängigkeit gibt es jedoch in den Justizvollzugsanstalten Angebote zur Bearbeitung. Zu beachten ist dabei allerdings, dass die Alkoholabhängigkeit oftmals mit Problemen der Gewalt- oder Sexualdelinquenz kumuliert ist, die als Sonderprobleme in eine Bearbeitung einbezogen werden müssen. Kontrovers diskutiert wird die Frage, ob die Nichtgeltung des § 35 BtMG für Alkoholabhängige ihre Therapiemotivation positiv beeinflusst und welche Rolle § 57 StGB dabei spielt.
10. Abschlussbemerkungen
Abschließend wird zur Kreativität im Umgang mit suchtkranken Straftätern aufgefordert. Der Entwurf eines Bewährungsbeschlusses, der mit vielfältigen Weisungen und Auflagen ein „maßgeschneidertes Korsett“ bieten kann, wird zur Diskussion gestellt. Unsicherheiten im Verfahren nach § 35 BtMG können zudem durch entsprechende Hinweise an die Verfahrensbeteiligten, etwa bei bereits im Urteil erteilter Zustimmung des Gerichts zu einer Maßnahme nach § 35 BtMG, vermieden werden.